«Ich bin längst in die Musik emigriert» – Ein Klavierabend im Kontext von Krieg
Christophe Bertrand (1981–2010): «Haos» (2003)
Olga Diener (1890–1963): aus «Kin-Spiel» op.43: III
Ruth Crawford Seeger (1901–1953): «Piano Study in Mixed Accents» (1930)
Valentin Silvestrov (*1937): «Kitsch-Music» (1977): Nr. I+II
György Kurtág (*1926): aus «Játékok»: «Blumen die Menschen, nur Blumen» (2003) und «In memoriam Maurice Fleuret» (1990)
Valentin Silvestrov: «Kitsch-Music»: Nr. III
Frederic Rzewski (1938–2021): aus «The People United Will Never Be Defeated!» und den «War-Songs» (2008)
Valentin Silvestrov: «Kitsch-Music»: Nr. IV+V
Meredith Monk (*1942): «Ellis Island» (1981)
Jean-Philippe Rameau (1683–1764): aus «Les Boréades» (1763): Acte IV, Scène IV: Entrée pour les Muses, les Zéphyres, les Saisons, les Heures et les Arts
Zum Programm:
Die ausgewählten Musikstücke verbinden in einem grossen Bogen die vermeintlich banale «Kitsch-Musik» des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov mit Musik, die in Kriegs-Kontexten entstanden ist. Silvestrov wandte sich in den 1970er-Jahren von der radikalen Avantgarde ab, hin zu einem Stil, der oft als «kitschig» oder sentimental beschrieben wurde – eine Bezeichnung, die der Komponist bewusst annahm und als entgegengesetzte Haltung zu den kalten, intellektualisierten Strömungen der Moderne einen zutiefst emotionalen, «post-romantischen» Stil entwickelte. Diese Abkehr von der Avantgarde war keine Flucht ins bittersüsse Pathos, sondern ein bewusster Versuch, das Menschliche und das Schöne in einer Zeit zu bewahren, in der sich die Kunst zunehmend von der Emotion entfernte.
Valentin Silvestrov erlebte als 84-Jähriger die Schrecken des Krieges in seiner Heimat und musste schliesslich aus Kiew nach Deutschland fliehen. «Ich bin längst in die Musik emigriert» sagte er 2022 in einem Interview mit der NZZ.
In der modernen Musik wurde das Schöne oft als naiv belächelt oder sogar abgelehnt, besonders in der Nachkriegszeit, in der Adornos berühmtes Diktum «nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch» galt. Doch kann Schönheit, besonders in Zeiten von Gewalt und Zerstörung, nicht auch ein Gegenpol, ein Akt des Trotzes sein? Ich habe darauf keine Antwort, aber denke, dass Kunst und Musik eine komplexe und facettenreiche Reaktion auf die Gewalt in unserer Zeit sein kann.
György Kurtág stellt in «Játékok» («Spiele») Fragen zur Erinnerung und Vergänglichkeit, zu Verlust und Empathie. Seine Stücke, besonders das «Letzte Gespräch mit László Dörnyei» oder «Blumen, die Menschen, nur Blumen», sind kurze, beinahe flüchtige Reflexionen über Trauer und Vergänglichkeit – Musik, die die Gewalt nicht direkt zeigt, sondern einen leeren Echoraum. Eine zerbrechliche, leise Geste.
Bei Frederic Rzewskis Variationen über «The People United Will Never Be Defeated!» hingegen wird energisch zur Widerstandskraft aufgerufen: Musik als Ermutigung, als Aufruf zum Kampf gegen Unterdrückung. Seine «War Songs» hingegen sind mit einem Zitat von Thomas Paine aus den «Rights of Man» überschrieben, das er 1791 in Reaktion auf die Französische Revolution verfasst hatte: «Wearied with war, and tired with human butchery, they sat down to rest, and called it peace.» («Erschöpft vom Krieg und müde von der menschlichen Schlachterei, setzten sie sich nieder, um sich auszuruhen, und nannten es Frieden.»). Thomas Paine verteidigte das Recht der Völker auf Revolution und kritisierte die Monarchie sowie die aristokratischen Privilegien. Paine argumentierte, dass alle Menschen angeborene Rechte haben, die durch Regierung und Institutionen geschützt, aber niemals entzogen werden dürfen. Er befürwortete eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit und die Abschaffung der Erbmonarchie. Sein Zitat reflektiert die Ironie, dass oft ein oberflächliches Ende der Gewalt als «Frieden» bezeichnet wird, obwohl die tieferen Wunden und Probleme, die der Krieg hinterlassen hat, weiterhin bestehen. Es fordert uns dazu auf, nicht nur die Abwesenheit von Krieg als Frieden zu verstehen, sondern nach einer dauerhaften und gerechten Lösung zu streben, die wirklichen Frieden bringt. Echter Frieden ist mehr als das blosse Aufhören von Gewalt. Er ist ein Zustand, der das Menschliche wiederherstellen muss, das durch Kriege zerstört wurde.
Die Klavierstücke von Olga Diener, Ruth Crawford Seeger, Christophe Bertrand und Meredith Monk können als ganz unterschiedliche Gegenentwürfe und Parallelen dazu gehört werden: In ihrem «Kin-Spiel» bezieht sich Diener auf das chinesische Saiteninstrument «Guqin» und evoziert eine Traumwelt, die ähnlich wie bei Silvestrov eine «Emigration in die Musik» zeigt.
Ruth Crawford Seeger hingegen schreibt in ihren radikal-experimentellen «Piano Study in Mixed Accents» gegen alle Konventionen an und versucht mit aller Kraft, mit Form und Struktur eine gültige Ordnung herzustellen.
Ebenso ordnend versucht der französische Komponist Christoph Bertrand einzugreifen. Sein Klavierstück «Haos», dessen Titel sich auf das altgriechische χάος («der weite leere Raum») bezieht, verweist auf das Konzept von Unordnung und Auflösung. Er komponiert dabei ein strukturell äusserst komplexes, aber dennoch klangsinnliches Stück, das Virtuosität als expressiven Extremzustand erlebbar macht. Bertrand, der an schweren psychischen Problemen litt und sich im Alter von 29 Jahren das Leben nahm, ist ein weiteres sehr eindrückliches Beispiel für die musikalische Ausdruckskraft eines «in die Musik emigrierten» Komponisten.
Meredith Monk schliesslich bezieht sich mit «Ellis Island» auf die kleine Insel im Hudson River vor Manhattan, die zwischen 1892 und 1954 für rund 12 Millionen Einwanderer in Kriegszeiten der Hauptzugangspunkt zu den Vereinigten Staaten war und einerseits ein Symbol für Hoffnung und Neuanfang war, aber während des Zweiten Weltkriegs auch vorübergehend als Internierungslager genutzt wurde.
Zum Schluss bringt uns Jean-Philippe Rameau in eine völlig andere Zeit und Klangwelt. In seiner Oper «Les Boréades» treten in einer allegorischen Episode alle Musen auf und feiern die Künste und die Inspiration, die Harmonie und Schönheit. Diese Musen-Szene steht thematisch im Einklang mit der zentralen Idee der Oper, in der Kunst und göttliches Eingreifen als Kräfte dargestellt werden, die Ordnung und Gerechtigkeit wiederherstellen können.
Zur Künstlerin:
Die Schweizer Pianistin Simone Keller absolvierte ihre Ausbildung in der Konzertklasse von Hans-Jürg Strub an der Zürcher Hochschule der Künste und wurde unter anderem mit dem 1. Preis beim Landolt-Wettbewerb, dem 2. Preis beim Hans-Ninck-Wettbewerb und dem EMCY-Kammermusikpreis beim Europäischen Klassik-Festival Ruhr ausgezeichnet. Sie pflegt als Solistin und Kammermusikerin ein sehr breites Repertoire in der klassischen und modernen Musik bis hin zu experimentellen und interdisziplinären Formaten, eigenen Konzepten und Vermittlungsprojekten und übt eine intensive Konzerttätigkeit in der Schweiz und in vielen anderen Ländern in Europa, den USA und Asien aus.
Als Gast spielte Simone Keller regelmässig beim Musikkollegium Winterthur, der Südwestdeutschen Philharmonie und dem Collegium Novum Zürich und wurde unter anderem vom Ensemble Contrechamps Genf, dem Glassfarm Ensemble New York oder dem Hong Kong New Music Ensemble eingeladen, wo sie mit Dirigenten wie Peter Rundel, Jac van Steen, Jonathan Stockhammer, Pablo Heras-Casado, Peter Ruzicka, Peter Hirsch, Heinz Holliger oder Johannes Kalitzke arbeitete. Für den Böhlau-Verlag Wien hat Simone Keller Ustwolskajas Klaviersonaten eingespielt und verschiedene Aufnahmen in Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio, dem Schweizer Radio DRS, Quilin Records, Musiques Suisses oder dem Merian-Verlag realisiert. Einen wichtigen Platz nimmt ausserdem die kontinuierliche Arbeit als Theatermusikerin ein. Simone Keller wirkte in unzähligen Produktionen mit und war beispielsweise am Theater Basel in den „Königinnen” von Joachim Schloemer und Fritz Hauser und am Schauspielhaus Zürich in „piano forte” von Ruedi Häusermann auf der Bühne zu sehen und hören.
Seit 2014 führt sie gemeinsam mit dem Regisseur Philip Bartels die Produktionsfirma ox&öl, die jährlich ein partizipatives Projekt in der Zürcher Tonhalle durchführt und verschiedene interdisziplinäre Musiktheaterproduktionen entwickelt hat, unter anderem in Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. ox&öl wurde 2017 mit dem Anerkennungspreis der Fachstelle für Kultur des Kantons Zürich im Bereich der kulturellen Teilhabe ausgezeichnet und wurde ebenfalls 2017 aufgrund seiner „richtungsweisenden Vermittlungsarbeit” für den „Junge Ohren Preis” in Frankfurt am Main nominiert.
2016 wurde Simone Keller für mehrere Monate in die Cité Internationale des Arts nach Paris eingeladen, 2017 durfte sie mit dem Center for Computer Research in Music and Acoustics an der Stanford University in Kalifornien zusammenarbeiten und erhielt 2019 erneut Einladungen von der Columbia University und der Manhattan School of Music in New York sowie der Brown University in Providence/Boston.
2018 erschien die Einspielung von Julius Eastmans Klaviermusik, die Simone Keller mit ihrem Klavierquartett bei Intakt Records veröffentlich hatte, auf äusserst unterschiedlichen Bestenlisten – unter anderem mit Hilary Hahn und Igor Levit in der Boston Globe als eines der „Best classical albums” und als „Album of the year 2018” von The New York City Jazz Records. 2019 wurde Simone Keller für den internationalen innovation award von Classical:NEXT nominiert. Im selben Jahr erhielt sie sowohl den IBK-Preis als auch den (parallel dazu von einer unabhängigen Jury aus Jugendlichen kuratierten) IBK-Förderpreis der Jugendjury. Simone Keller ist Preisträgerin des Conrad Ferdinand Meyer Preises 2021.
2022 wurde sie sowohl mit dem Schweizer Musikpreis als auch dem Thurgauer Kulturpreis ausgezeichnet.
Programm folgt